top of page

Aktuelle Blogs:

Search By Tag:

Die Abwesenheit

Lydia Siegenthaler

Mein Leben ist voll. Es ist voll mit Menschen, die mit mir unterwegs sind, voll mit Aufgaben, die ich noch zu erledigen habe, voll mit Ideen, die ich umsetzen möchte und voll mit Büchern, die darauf warten endlich (fertig) gelesen zu werden. Mein Leben ist so voll, dass ich ab und zu eine Auszeit brauche. Über die Jahre habe ich gelernt mir täglich, kleine Inseln zu schaffen in denen ich Zeit allein für mich und mit Gott habe. Gefüllt werden diese Auszeiten ganz unterschiedlich, ein Gebetsspaziergang oder ein Kaffee, eine halbe Stunde Klavier spielen oder ein gutes Glas Wein zu einem spannenden Roman – es gibt unzählige Möglichkeiten wie Gott mir hilft achtsam mit mir umzugehen.

Kleine Pausen im Alltag – darin bin ich richtig gut. Wenn es jedoch darum geht die Pause grösser werden zu lassen, einmal eine ganze Woche oder schon nur ein Wochenende die Hände ruhen zu lassen beginnt für mich der Stress. Das Problem ist nicht die ToDo Liste, sondern mein Smartphone. Meine Verbindung zu den vielen Menschen, die mit mir zusammen unterwegs sind. Ich bin gern für andere Menschen da. Ich bete, tröste, ermutige und freue mich, wenn Menschen um mich herum plötzlich Schritte wagen, Fesseln abstreifen und neues Land entdecken.

Nur leider hat das ganze «sich kümmern» eine Kehrseite. Bin ich nämlich länger nicht erreichbar werde ich unruhig. Was wenn gerade jetzt ein Notfall eintritt bei dem ich helfen könnte? Was wenn die Person, die gerade erst aus ihrer Sucht raus ist einen Rückfall hat? Was wenn die Frau mit den Depressionen plötzlich wieder Selbstmordgedanken hat? Was wenn die Albträume bei meiner Freundin zurückkehren? Wer hilft, wenn ich nicht da bin?

Dass es für mich ungesund ist, immer erreichbar zu sein, weiss ich. Mir ist klar auch ich brauche Pausen. Nur war bis jetzt die Angst vor der grossen Katastrophe während meiner Abwesenheit immer präsent.

Vor einigen Wochen hat Gott mich über einen Satz stolpern lassen von Henri Nouwen, der mir eine völlig neue Sichtweise geschenkt hat. Nouwen schreibt in seinem Buch «Suche nach Einklang»:

«Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass es einen Dienst gibt, bei dem unser Weggehen Raum schafft für Gottes Geist und bei dem Gott durch unsere Abwesenheit auf neue Weise gegenwärtig werden kann.»

Wie meistens, wenn mir Gott etwas aufzeigt, frage ich mich, wie ich nur so blind sein konnte. Wenn ich immer erreichbar bin, lernen die Menschen sich auf mich zu verlassen, wo sie sich doch eigentlich auf Gott verlassen sollten.

Wie meistens, wenn mir Gott etwas aufzeigt, frage ich mich, wie ich nur so blind sein konnte. Wenn ich immer erreichbar bin, lernen die Menschen sich auf mich zu verlassen, wo sie sich doch eigentlich auf Gott verlassen sollten. Wenn immer ich die Tröstende und Ermutigende bin, verpassen die Menschen um mich herum die kreative, liebevolle Vielfalt mit der Gott sie trösten und ermutigen möchte. Oder wie es Henri Nouwen weiter unten schreibt:

«Ohne dieses Sich-Zurückziehen geraten wir in die Gefahr, nicht mehr in seinem Namen zu reden und zu handeln, sondern in unserem eigenen; nicht mehr auf den Herrn hinzuweisen, der Halt gibt, sondern nur noch auf unsere eigene ablenkende Person.»

Wie recht er hat. Viel zu oft bin ich genau in diese Falle getappt. Doch ich merke wie sich in mir etwas Neues beginnt zu regen, die Angst vor der Katastrophe macht der Vorfreude Platz. Immer öfters warte ich nun gespannt darauf von den Menschen um mich herum zu hören wie Gott sie getröstet hat, wenn sie mich nicht erreichen konnten, wie er ihnen andere Menschen über den Weg geschickt hat um zu helfen und wie sie ermutigt wurden durch ein Lied oder einen Bibelvers.

Tatsächlich habe ich dies bereits mehrmals ganz praktisch erlebt. Eine Freundin versuchte mich aufgrund von Panikattacken mitten in der Nacht zu erreichen. Da ich schlief und darum nicht erreichbar war, blieb ihr keine andere Wahl als Hilfe direkt bei Gott zu suchen. Voller Begeisterung erzählte sie mir am folgenden Tag wie Gottes spürbare Gegenwart sie ruhig gemacht habe und die Angst verschwunden sei. Und ich konnte ihr ausgeschlafen zuhören und mich mitfreuen.

Was für ein Vorrecht einen grossen, guten Gott zu haben. Ich kann und soll von Zeit zu Zeit ganz beruhigt abwesend sein. Er hat alles unter Kontrolle – auch ohne mich.

Blog Archiv:

bottom of page