Gegen Ende der Lockdown-Zeit verreisen mein Mann und ich für ein paar Tage Kurzurlaub ins Tessin. Die Sonnenstube der Schweiz zeigt sich von ihrer brillantesten Seite: Stahlblauer Himmel, Sonnenschein ohne Ende, sommerliche Temperaturen im Mai und das Grün der Pflanzenwelt spriesst wie verrückt. All das lädt zum Draussen sein ein, wir wandern, begegnen sogar Schlangen, fläzen auf den heissen Steinen an den Flüssen und wagen uns ins eiskalte Nass. Das tut so gut nach den Wochen hinter dem Bildschirm!
Oberhalb von unserer Unterkunft, exponiert auf einem Felsvorsprung, steht eine kleine Kapelle. Nach dem Frühstück, bevor wir unser Tagesprogramm – baden am Fluss ist angesagt – angehen, wollen wir sie besichtigen. Das Wanderwegzeichen sagt, der Aufstieg dauere zwanzig Minuten. Wir kennen das Tessin und seine steilen, felsigen Wege. Darum schnallen wir trotz der kurzen Distanz gutes Schuhwerk an, aber ausser einer kleinen Flasche Wasser nehmen wir nichts mit, es soll ja nur ein kleiner Erkundungsspaziergang werden. Oben angelangt entdecken wir einen weiteren Weg, der in ein wunderschönes Tal zu führen scheint. «Komm, wir gehen noch ein Stück weiter!» Wir vergessen uns, gehen immer weiter. Nach etwa vierzig Minuten rasten wir, Wanderer in der Gegenrichtung ermuntern uns, noch etwas weiter zu gehen, vielleicht eine halbe Stunde, es lohne sich sehr, da gebe es ein kühles Flussbecken. Nachdem wir wieder lange gegangen sind, begegnen uns wiederum Wanderer, die meinen, dreissig Minuten dauere es schon noch, bis wir ganz hinten im Tal angekommen seien. Aber es lohne sich sehr. Wir sind hin und her geworfen, umkehren oder weitergehen? Nach über zwei Stunden sind wir am Ziel, nehmen eine andere Route zurück und haben schlussendlich eine Wanderung von viereinhalb Stunden hinter uns.
Die Erfahrung ist mir zum Sinnbild geworden. Das Wandern hat den Vorteil, dass du mit den Gedanken immer freier wirst. Mit jedem Schritt war mir, als hörte ich den Heiligen Geist klarer, wie er durch das gerade Erlebte sprach. Wie oft schon habe ich in der Vergangenheit ein Ziel anvisiert, so wie die Kapelle, das mir erreichbar schien und von dem ich mir ein ungefähres Bild machen konnte. Im Vertrauen darauf, in Übereinstimmung mit Gottes Absichten zu sein, ging ich los. Und das war auch so, bloss reichte meine Vorstellungskraft nicht aus, um den ganzen Weg zu sehen. Die Wanderung war atemberaubend schön, voller Entdeckungen, aber auch mit abschüssigen Stellen, die mich herausforderten. Es ist nicht so mein Ding, an ein am Fels montiertes Stahlseil gekrallt über einen Abgrund zu balancieren. Aber deswegen umzukehren, das war keine Option.
Gott öffnet Türen, zeigt Möglichkeiten, die ich ergreifen kann. Von da aus eröffnet sich die nächste Wegstrecke.
Gott öffnet Türen, zeigt Möglichkeiten, die ich ergreifen kann. Von da aus eröffnet sich die nächste Wegstrecke. Ich kann jederzeit umkehren, muss mich also auch immer wieder neu durchringen. All das kenne ich – jüngstes Beispiel ist mein “Ja”, das ich vor rund vier Jahren gegeben habe, ein Ministry für Frauen ins Leben zu rufen. Erste Ziele sind anvisiert, Etappen zurückgelegt. Abschüssiges Terrain? Keine Frage! Mich durchringen müssen zum Weitergehen? Klar. Gottes Schönheit dabei begegnet? Und wie! Ein Ende in Sicht? Wohl kaum. Beim Wandern habe ich all das mit Gott besprochen - ganzheitlich beten nennt man das wohl. Dabei habe ich neue Kraft geschöpft und Mut gefasst, das nächste Teilziel anzusteuern.
Sabine Fürbringer arbeitet freiberuflich als Psychologin und leitet bei Campus für Christus Schweiz den Bereich Campus WE, ein Netzwerk für Frauen, die leiten und Leben gestalten.