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  • AutorenbildUrsina Häfliger

Betrachtung


Nackt steht sie vor dem Spiegel und betrachtet sich. Lebensreif, doch kein bisschen lebensmüde. Ihr Blick, ein Gemisch aus Trauer, Wehmut und Resignation. ‚Schauen Sie mal, was von mir noch geblieben ist.’ Ich betrete einen Raum, den man ungeladen nicht betritt und nehme die Einladung an. ‚Ich war eine schöne Frau, mein Mann mochte schlanke Frauen.’ Eine falsche Beteuerung, ein falscher Trost und die Selbstverachtung ist zementiert. Was sind die richtigen Worte? Ich schaue hin. Die Kombination von Zeit und Schwerkraft hat auf ihrem 95 jährigen Körper eindeutige Spuren hinterlassen. Wir lassen uns Zeit. Ich lade Gott hinzu. Und dann kommen die Worte: Vermutlich hat jede Falte eine Geschichte und ich bin überzeugt, es hat ganz wertvolle dabei. Ihr Gesicht wendet sich mir zu. Sie ist wunderschön. Ihre Augen schauen mich neugierig und überrascht an. ‚Das ist ein wunderbarer Gedanke, herzlichen Dank’. Die alte Dame berührt mich und ich staune über ihren Mut zur Betrachtung.


Habe ich die Courage so nackt vor den Spiegel zu stehen und wirklich hinzuschauen? Die Schwerkraft hat bei mir noch nicht so lange Zeit gehabt zu formen, aber sie arbeitet daran. Verletzungen, Stolz, Missbrauch, kaputte Beziehungen, - aber auch tiefe Freundschaften, biologische Schmuckstücke, erfüllte Ehe und herzliches Lachen haben ihre Spuren auf meinem Körper hinterlassen. Makellos ist anders.


Ich halte inne, entblösse mich, strecke mich Gott hin.


Ich halte inne, entblösse mich, strecke mich Gott hin:

Bitte schau mich mit mir zusammen an. Was siehst DU? Welche Geschichten haben wir bereits zusammen geschrieben? Welche möchtest du noch mit mir schreiben? Gibt es Kapitel die dankbar geschlossen werden dürfen? Gibt es Geschichten, in deren Vorwort ich steckengeblieben bin? Schenk mir DEINEN Blick.

Mein Körper ist das Gefäss, das Gott nutzt, um sich durch mich Menschen zu offenbaren. Der Gedanke lässt mich neu taumeln.

Ein tiefer Frieden und Gewissheit macht sich breit, legt sich wie ein warmes Tuch um meine Schultern und hüllt mich ein – ich möchte nur einen Autor in meinem Leben haben.

Nicht nur Zeit und Schwerkraft haben meine Falten und Pölsterchen modelliert – eine liebende Hand hat sie in Form gebracht und einzigartig gestaltet.

Daran will ich mich halten, wenn ich nächstes Mal auf die Waage stehe, wenn eine Stimme mir einreden will, dass ich nicht schön sei oder mich Plakate mit knackigen 60 Jährigen anlachen und behaupten, dass nur so älter werden Spass macht.

Nein, ich weiss es besser - ich werde meine von Gott moderierten Geschichten stolz in die Welt tragen.


Im Zimmer ist ein Gewusel, alle scheinen beschäftigt mit Körperpflege, Therapien und Arztvisiten. Aus dem Bad kommt kein Laut. Langsam werde ich unruhig und klopfe leise an die Tür.’ Hallo? Alles gut? Brauchen Sie Hilfe?’ Vorsichtig öffne ich die Tür, als keine Antwort kommt. Da steht sie wieder, nur in Spitalnetzhosen gekleidet vor dem Spiegel und lächelt mich schelmisch an – ‚alles gut, ich bin am Geschichten schauen’.


Ursina Häfliger, Schweiz

Mutter von 6 eigenen Kindern und 3 Pflegesöhnen aus Afghanistan, Präsidentin einer lokalen freikirchlichen Gemeinde, seit 1997 mit onkologisch und palliativ Erkrankten Menschen arbeitend. Seit 2020 Fachleitung und stellvertretende Abteilungsleitung einer Akutgeriatrie.

Ursina liest und schreibt leidenschaftlich, kreiert, denkt und visioniert, reist in der Welt herum und ist gerne mit Menschen zusammen.


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