In all den Jahren, seit ich in Südafrika lebe und jeden Tag im Township in vielen Häusern ein- und ausgehe, habe ich viele schwierige Geschichten gehört: Geschichten von jahrelangem sexuellem Missbrauch von Onkeln und Vätern. Von Schlägen und häuslicher Gewalt. Geschichten von Drogendealern, die in aller Öffentlichkeit kleine Kinder für Drogen anwerben und von Teenager-Boys, die in Gruppen ein Mädchen vom einen zum anderen weitergeben, um eine schnelle Nummer zu schieben. Oder die Geschichte einer jungen Frau, die bei einem Doppelmord präsent war, den Täter sah und trotzdem nichts der Polizei sagte. Aus Angst vor Rache und Gewalt. In den meisten Fällen war der Ausgang dieser Geschichten derselbe: Die Leute sahen oder erlebten etwas Schreckliches, sagen jedoch nichts. Die Polizei tappt im Dunkeln, weil die Bevölkerung schweigt. Und das Unrecht bleibt. Zu gross ist die Angst, selbst Opfer von Gewalt zu werden. Zu stark die Scham, dass man das Gesicht verlieren oder verleumdet werden könnte.
Wenn ich diese Geschichten jeweils hörte, schrie ich innerlich jedes Mal auf. Wie war das nur möglich, dass die Menschen so schlimme Dinge erlebten, davon wussten und doch die völlig falsche Entscheidung trafen, nichts zu unternehmen? Sie waren doch mit mir einig, dass diese Handlungen völlig inakzeptabel waren, dass die Kriminellen hinter Gitter gehörten und für ihr Unrecht büssen sollten. Ich selbst wusste in solchen Fällen immer genau, was gut und was falsch war: Wahrheit gut und Unrecht falsch. Punkt. Ich wusste auch, wie man sich entscheiden sollte und was man tun musste. Doch weshalb liessen sich die Leidtragenden nicht überzeugen, das «Richtige» zu tun?
In all den Jahren habe ich viel über die Kultur, den Hintergrund und die Geschichten dieser Menschen gelernt. Wie komplex und kompliziert die Situationen waren. Wie eine Geschichte selten allein kam und ein Ereignis zum nächsten führte. In all diesen Krisen meiner Mitmenschen habe ich oft tiefe Angst, Schmerz und Trauer gesehen und Dinge aushalten müssen. Ich lernte dabei viel über mich selbst: Ich wollte retten, wollte, dass «aufgeräumt» wird in diesem Township. Wie gerne hätte ich die richtigen Entscheidungen durchgeboxt. Wie oft dachte ich, ich wüsste, was zu tun sei. Wie oft sah ich mich als die Stärkere, ausgerüstet mit Weisheit. Doch ich musste lernen zu akzeptieren, dass manchmal die «richtige Entscheidung» nicht getroffen werden kann. Aber dass es hilft, wenn das Leid geklagt werden darf. Dass die schrecklichen Dinge ausgesprochen werden. Dass es manchmal schon genug ist, wenn Menschen einen Ort haben, wo sie sich den Schmerz von der Seele reden können, auch wenn sich dadurch in ihrem Umfeld nicht sofort etwas ändert. Und dass wir erfahren, wie Gott uns zusammen im Teilen des Leides begegnet.
Dieser Blog wurde von Doris Lindsay für das Amen Magazin 2/23 geschrieben. Mehr Infos auf www.amen-magazin.ch
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