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  • Ursina Häfliger

Der Stachel im Fleisch


Sie hatte wieder zugeschlagen – einen Tag verloren.

Mein Kopf, ein Mahlwerk. Jedes Geräusch, jeder Geruch war zu viel. Jeder Sonnenstrahl, der durch meine Lider drang, heizte das Feuer in meinem Hirn mehr an. Ich übergab mich ohne Ende. Eine Socke, die von innen nach aussen gekehrt wurde. Während des Erbrechens wehrte sich mein Beckenboden – hey denk, daran, ich habe 6 Kinder geboren! Über meinen Körper rauschten eisige Feuerwellen.


Die Migräne reduziert mich auf mein Rudimentärstes. So müssen sich meine Patienten fühlen, wenn eine Chemotherapie, der Tumorschmerz oder der Tod zuschlägt. Nicht selten gelingt es mir, diesen Menschen in diesen Momenten Würde, Zuneigung und ein Gefühl des Aufgehoben Seins zu vermitteln. Die Gewissheit: du bist mehr, als das, was grad mit dir passiert! Da ist jemand, der dich wahrnimmt, mit dir da hindurch geht.

Ich habe gerne Kontrolle und kann sie gut und immer besser abgeben – wenn ich mich dafür entscheiden kann. Ich lasse anderen gerne Raum – wenn ich mich dafür entscheiden kann. Ich kann anderen folgen – wenn ich mich dafür entscheiden kann. Meine Migräne nimmt mir alles: Kontrolle, Entscheidungsfreiheit und Mitbestimmung. Dafür hasse ich sie. Weder denken, singen oder beten geht. Doch genau in solchen Momenten spüre ich: da ist jemand, der mich liebt, einfach weil ich bin.


Weder denken, singen oder beten geht. Doch genau in solchen Momenten spüre ich: da ist jemand, der mich liebt, einfach weil ich bin.

Eine liebende Hand, die mich hält, die mir versichert: es geht weiter. Nicht selten manifestiert sich diese göttliche Nähe im physischen Dasein meines Ehemannes, der mich hält, Becken leert und mich aus dem Schlamassel meines versagenden Beckenbodens befreit.

Oft bin ich der Antrieb von Dingen. Organisiere, führe durch – dann bin ich im Element. Manchmal passiert es, dass ich in den ‚ohne-mich-geht-es-nicht’ – Modus und noch übler, in die Märtyrer-Rolle gerate. Gerade kürzlich war so ein Tag. Wir wollten etwas unternehmen. Es musste noch einiges organisiert werden. Wütend und lieblos bereitete ich alles vor, während meine Familie noch friedlich schlief. ‚Jetzt nehme ich mich dann einfach raus, dann könnt ihr sehen, wie das ohne mich geht!’, schleuderte ich ihnen entgegen. Wenn ich nicht so laut gewesen wäre, hätte ich wohl Gottes flüsternde Stimme gehört: ‚Warte, ich helfe dir dabei, dich rauszunehmen.’ Migräne.

Meine Familie ging am nächsten Tag auch auf einen Ausflug, ich lag mit Obengenannter im Bett. Vielleicht waren meine Lieben tatsächlich nicht so organisiert, vielleicht fehlte etwas. Alle kamen jedoch glücklich, voller Erlebnisse und nicht verhungert zurück. Auch ohne mich.

Wenn es mir dann wieder besser geht, die Gedanken zurück in die Hirnwindungen finden, mein Gotteslob den Weg vom Kopf ins Herz schafft, erkenne ich, dass der ‚Stachel im Fleisch’ Gottes Werkzeug ist.


Es tut meiner Stärke gut, schwach zu sein. Es tut mir gut, mich mit den Abgründen meiner Seele auseinander zu setzen. Es tut mir gut, auf mein ‚Sein’ reduziert zu werden. Schlussendlich das Einzige, was ich Gott zu bieten habe.

Migräne – ein gewonnener Tag?



Ursina Häfliger, Schweiz

Mutter von 6 eigenen Kindern und 3 Pflegesöhnen aus Afghanistan, Präsidentin einer lokalen freikirchlichen Gemeinde, seit 1997 mit onkologisch und palliativ Erkrankten Menschen arbeitend. Seit 2020 Fachleitung und stellvertretende Abteilungsleitung einer Akutgeriatrie.

Ursina liest und schreibt leidenschaftlich, kreiert, denkt und visioniert, reist in der Welt herum und ist gerne mit Menschen zusammen.



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